Kultur

Roman - Muskeln aus Plastik „Dein kleines, behindertes, transsexuelles Geheimnis“

„Du fantasierst von einem Raum, der Bett und Bühne vereint, der Krankenzimmer und Atelier in einem ist, in dem du strippen und schlafen kannst, in dem du essen und facetimen kannst, in dem du weinen und ruhen kannst, in dem du leiden und rummackern kannst, in dem du hot und behindert sein kannst.“

 

Coverbild von „Muskeln aus Plastik“. Magenta Hintergrund. Im Vordergrund ist eine Person in einem blauen Jogginganzug mit weißen streifen und einer grünen Wärmeflasche. Man sieht die Person nur von hinten und es ist rangezoomt an den Oberkörper und die Beine

Buchcover (C) Hanser-Literaturverlage

In genau so einen Raum führt uns Kay Matter in deren Prosadebüt „Muskeln aus Plastik“ (noch erschienen unter dem Namen Selma Kay Matter). Ein Auto-fiktionales Buch, indem die Leser*innen Kay bei deren Versuch begleiten, die Schwere von Alltag, chronischen Erkrankungen, Begierde und dem Wunsch nach einer Ausdrucksform für Schmerz zu stemmen. Das ist an sich schon ziemlich viel auf einmal, es wird allerdings noch um einiges schwieriger„während ich nicht mal in der Lage bin, mir Spaghetti zu kochen, ohne dass sich meine Symptome verschlimmern“

Kay ist Mitte zwanzig, nicht-binär und wurde durch Long COVID aus deren vorherigen Leben gerissen. Durch das häufig mit eingehende ME/CFS, auch chronisches Fatigue-Syndrom genannt, hat sich vieles in Kays Leben verändert.

Dey (geschlechtsneutrales Pronomen) muss plötzlich jeden Schritt, jede Fahrt in die Stadt, um einkaufen zu gehen, jeden Toilettengang und allgemein jede Tätigkeit genau überdenken. Kay sollte deren Maximalpuls nicht überschreiten, denn das führt zur Verschlimmerung der Symptome.

Eine ganz schön schwierige Aufgabe, besonders wenn man ziemlich in jemanden verliebt ist. Kay steht total auf Aron und so folgen auf jedes Rumknutschen Gliederschmerzen, das gespannte Warten auf eine Antwort verwandelt sich plötzlich in Fieber, aber der Wunsch danach begehrt zu werden, verändert sich nie. Die Leser*innen bekommen einen Einblick darauf, wie schmal die Linie zwischen Lust und Schmerz sein kann.

Aron ist ebenfalls trans* und obwohl die beiden durch ihre Erfahrungen mit Geschlecht und Transition eine enge Bindung zueinander aufbauen können, steht das Verständnis für die Lebensrealität mit Behinderungen zwischen ihnen.

„Kay, ich kann dich nicht treffen, nur damit du dich weniger behindert fühlst, okay?“

Aron ist nämlich nicht behindert und hat dementsprechend keine Erfahrung damit wie es ist, ständig auf den Maximalpuls achten zu müssen oder sich ständig Sorgen machen zu müssen, ob Tätigkeiten, die für manche Personen schon fast automatisch funktionieren, dazu führen, dass man am nächsten Tag vor Schmerzen kaum noch aufstehen kann.

 

Auf der Suche nach einer Ausdrucksmöglichkeit

In Muskeln aus Plastik teilt Kay den Frust darüber, keine Sprache für diese Schmerzen zu haben.

„Die unsharability, das Unvermögen, mich mitzuteilen, war für mich beinahe genauso unerträglich wie der primär empfundene Schmerz. Das Fehlen einer Sprache, um die ich auch jetzt noch ringe.“

Matters essayistische Texte werden mit Zitaten von anderen queeren, kranken und behinderten Personen untermalt, aber auch von wissenschaftlichen Texten über die chronischen Erkrankungen. In den sechs Kapiteln bekommt man einen Einblick in den Schmerz mit unterschiedlichen Fokuspunkten, die alle gemeinsam ein abgerundetes Gesamtbild ermöglichen. Das Wechseln zwischen Prosa und Aufklärung schafft einen einzigartigen Raum von Nähe und Verletzbarkeit, der in dieser Form noch nicht so häufig in anderen Büchern zu finden ist.

Der Einblick in Kays Transition ermöglicht es zu verstehen und zu hinterfragen, welchen Einfluss das Geschlecht auf die Konnotationen von Bedürfnissen, körperlichen und emotionalen Grenzen und auf Fürsorge hat und wie sehr „Desirability“ den Zugang dazu beeinflusst.

Der Traum von „Disability Justice“

Muskeln aus Plastik betont die Wichtigkeit eines neuen Verständnisses von Genesung, welches nicht im medizinischen Sinne ausgerichtet werden kann, sondern fordert, dass Care-Arbeit, vor allem von nicht-behinderten oder erkrankten Personen, zwar nicht mit Freude, aber gewaltfrei stattfinden muss.

Das Buch ist ein must-read für Betroffene und Angehörige. Auch Personen, die weder mit „Transsein“ noch chronischen Erkrankungen und Behinderungen in Kontakt stehen, bekommen durch "Muskeln aus Plastik" einen mitreißenden Einblick in diese Lebensrealität.

„Vielleicht ist das auch, warum ich schreibe: um das Geschehen zu zwingen, bleibende Spuren zu hinterlassen, anstatt spurlos in der Ewigkeit zu verschwinden.“

Selma Kay Matter „Muskeln aus Plastik“ 01.10.2024 /Hanser Berlin /ISBN 978-3-446-28003-8/ 23,00 €/ Hardcover